Ankereffekt: Definition & Wirkungsweise
Veröffentlicht: 19.08.2022 | Lesedauer: 5 Minuten
Anker haben nicht nur etwas mit Schiffen zu tun, sondern auch mit der Art und Weise wie wir Sachverhalte beurteilen und Entscheidungen treffen. Selbst wer den Begriff »Ankereffekt« noch nie gehört hat, begegnet ihm unbewusst tagtäglich – zum Beispiel beim Einkaufen. Denn die Preise sind kein Zufall, sondern Marketing und Verkauf machen sich den Effekt unter anderem bei der Preisgestaltung zunutze. Wer nämlich die richtigen Anker setzt, kann damit die Kaufentscheidung von Kunden zu seinen Gunsten beeinflussen.
Ankereffekt
➠ Definition
➠ Wirkung und Anwendungsbeispiele
➠ Ankern in Verhandlungen
Was versteht man unter Ankereffekt?
»Meine Entscheidungen sind wohl überlegt und ganz rational«. Diesen Satz darf man getrost ins Märchenreich verbannen. Die Hirnforschung hat uns längst bewiesen, dass dem eben nicht so ist. Stattdessen beeinflussen uns Gefühle und äußere Eindrücke weitaus mehr und schlagen unserem Verstand nicht selten ein Schnippchen. Einfach ausgedrückt: Menschen lassen sich manipulieren, oft ohne es zu merken. Das wissen die Marketingprofis selbstverständlich und bedienen sich aus dem Werkzeugkoffer der Verkaufspsychologie, um Kunden zum Kauf zu animieren.
Definition: Der Begriff Ankereffekt (engl. anchoring effect) entstammt der Kognitionspsychologie. Darunter versteht man das Phänomen, dass wir unwillkürlich Reize bzw. Informationen aus der Umgebung aufnehmen, aus denen unser Gehirn konkrete Fakten herausfiltert und daraus eine Art gedanklichen Anker bildet, an dem wir uns bei Entscheidungen orientieren. Das kann unbewusst geschehen, wenn der Anker eine Verbindung zu bereits abgespeicherten Informationen aktiviert (= Priming). Oder er bildet die Basis für eine bewusste Überlegung, die zu einer Lösung führen soll. In diesem Fall handelt es sich um eine Anpassungs- bzw. Ankerheuristik.
Allerdings ist es egal, ob die durch den Anker ausgelöste Assoziation für die Entscheidung überhaupt relevant ist. Und genau da liegt der Knackpunkt. Die Ankerheuristik ist eine einfache Gedankenstrategie, die es uns erlaubt, schnell zu einem Ergebnis zu kommen, wenn wir zu wenige oder zu viele valide Informationen haben. Andererseits können sowohl Priming als auch Ankerheuristik eine Wahrnehmungsverzerrung bedingen und so unser Urteil beeinträchtigen.
Wie funktioniert der Ankereffekt?
Forscher beschäftigen sich schon seit den 1960-er Jahren mit dem Phänomen und zahlreiche Experimente haben die Wirkunsweise des Ankereffekts gezeigt. Viele dieser Untersuchungen fußen zum Beispiel auf Schätzaufgaben oder ähnlichem. So hat man Probanden die Entfernung von A nach B abschätzen lassen. Zuvor bekamen sie eine Zahl als Bezugsgröße genannt. Je niedriger diese Zahl war, desto geringer fiel das Schätzergebnis aus.
Kurz zusammengefasst sorgt das Ankerphänomen dafür, dass wir die zuerst genannte Zahl als Orientierungspunkt nutzen und unsere Entscheidung daran ausrichten, unabhängig davon, ob diese Zahl auch nur annährend realistisch ist oder irgendetwas mit unserem »Problem« zu tun hat. Zweifellos lassen sich Marketing und Verkauf diese Chance nicht entgehen und »ankern« ihre Kunden fleißig.
Ein fiktives Beispiel aus dem Supermarktregal
Im Regal liegen zwei Sorten abgepackte Leberwurst nebeneinander. An der linken Sorte prangt ein Schild »Sonderangebot der Woche – Feine Kalbsleberwurst nur 1.09 €«. Im Kleingedruckten steht das Gewicht: 125 Gramm. Die Wurst rechts daneben ist normal ausgepreist. Sie kostet 1.19 € und wiegt 150 Gramm. Weil wir in der Regel zuerst nach links schauen und uns dort gleich der groß abgedruckte Ankerpreis von 1.09 € »abholt«, finden wir das Sonderangebot sofort günstiger. Schließlich kostet es ja 10 Cent weniger. Dass dem nicht so ist, bekommen wir als Kunden nur heraus, indem wir Preise und Gewicht der Ware miteinander vergleichen. Doch durch den Ankereffekt sind wir unbewusst schon auf den zuerst gesichteten, prägnanten Preis fixiert und wägen meist nicht weiter ab. (Übrigens kostet die Wurst im Angebot 0.87 € je 100 Gramm, die andere nur 0.79 €.) 😉
Der Ankereffekt funktioniert auch beim Online Marketing im E-Commerce. Bietet eine Firma auf ihrer Website für eine Dienstleistung verschiedene Pakete an, wird das teuerste Premium-Produkt ganz links präsentiert. Kunden sehen zuerst den höchsten Verkaufspreis, den sie als teuer empfinden. Dafür erscheint das mittelpreisige Angebot im Vergleich zum günstigen Basispaket ganz rechts besonders attraktiv. Der Anker »hoher Preis« zieht uns ganz automatisch in diese Richtung und die meisten Kunden kaufen dann das mittlere Angebot, was genauso gewollt ist. Wir können uns dem kaum entziehen, selbst wenn wir uns Mühe geben. Denn unser Gehirn bietet uns durch die Ankerheuristik eine bequeme Abkürzung im Denkprozess.
Weitere Ankermöglichkeiten in Marketing und Verkauf
➣ Rabatte sind ein probates Mittel, um Kunden zum Kauf anzuregen. Vor allem, wenn sie in Prozent angegeben sind. Wir sehen nämlich zuerst die Botschaft »Der Preis ist reduziert« – und rechnen selten nach. Allerdings: Je teurer ein Produkt, desto weniger wirksam sind Rabattangaben in Prozent, weil uns 20 Prozent von 2000 € weniger vorkommen als 20 Prozent von 200 €.
➣ Pakete zu schnüren, kann sich ebenfalls positiv auf den Umsatz auswirken. Auch das kennt man aus verschiedenen Bereichen: Bei der Abnahme einer großen Stückzahl sinkt der Einzelpreis. Das Gleiche gilt bei Abonnements. Hier können verschiedene Varianten mit unterschiedlichen Laufzeiten angeboten werden. Die Variante mit der längsten Laufzeit hat den verhältnismäßig niedrigsten Preis pro Monat.
➣ Ankern basiert auf Suggestion. Spendenorganisationen beispielsweise setzen darauf und nutzen voreingestellte Summen, die man anpassen kann. Doch meist wird mehr gespendet, wenn der voreingestellte Anker relativ hoch angesetzt ist. Kostenlose Dreingaben können den Effekt sogar noch weiter verstärken. Wenn wir etwas geschenkt bekommen, erscheinen uns Preise gleich weniger hoch.
Ankereffekt in Verhandlungen
Der Ankereffekt lässt sich auch bei Verhandlungen oder Gesprächen einsetzen. Anders als beim Mikado gilt aber hier die Regel: Wer sich zuerst bewegt, gewinnt. Mit anderen Worten, derjenige, der zuerst eine konkrete Zahl nennt, setzt den entscheidenden Anker und kann damit sein Gegenüber in seinem Sinne beeinflussen. Das ist zum Beispiel bei Gehaltsverhandlungen ganz praktisch, genauso wie im Verkaufsgespräch.
Jedoch darf man eines nicht vergessen: Der Ankereffekt kann schnell verpuffen. Das passiert, falls der Anker zu weit von der Realität entfernt ist. Immerhin können wir auf unsere Erfahrung sowie Beobachtungen aus anderen Situationen zurückgreifen und wissen ungefähr, was realistisch ist und was nicht. Wer bei Verhandlungen zu hoch pokert, kann dann das Nachsehen haben. Ankern ist ein nützliches Werkzeug, sofern es mit Augenmaß eingesetzt wird.
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